In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, trafen wir Jugendliche uns, sobald wir es zuhause unter Aufsicht unserer Eltern nicht mehr aushielten, jeden Tag nach der Schule an der Bushaltestelle. Wann immer ich dort vorbei ging, immer traf ich eine*n Freund*in, mit dem*der ich Worte, eine Umarmung oder auch einfach bedeutsames Schweigen austauschen konnte. Viele von uns haben an dieser Bushaltestelle Trost in schweren Zeiten gefunden, manchmal gab es Streit oder gar eine Schlägerei, aber immer kehrten wir wieder an diesen Ort zurück, um heimlich zu rauchen, zu saufen, zu plaudern oder einfach stumm nebeneinander zu sitzen und zu wissen, dass wir einander haben.
Es kam der Tag, an dem ich wegzog und diese Bushaltestelle nicht mehr der Mittelpunkt meines Soziallebens war. Und als ich Jahre später zurückkehrte und mich wie in alter Gewohnheit auf die hölzerne Sitzbank setzte, wartete ich vergebens. Ich wartete und wartete, bestimmt eine Stunde lang. Irgendwann hielt ein Bus, öffnete die Tür und nach einem kurzen Moment herrschte mich der Fahrer an, dass ich mich gefälligst woanders hinsetzen solle, wenn ich nicht vor hätte den Bus zu nehmen. Was hatte ich erwartet? Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, meine Freund*innen von früher zu treffen. Nein, sie mussten inzwischen alle “erwachsen” geworden sein und statt an Bushaltestellen herumzulungern bewohnten sie mit Kind und Kegel ein spießiges Eigenheim, mit gepflegtem Vorgarten und schicker Einrichtung. Ja, irgendwann kriegt das System die meisten von uns. Nein, eigentlich hatte ich gehofft, die jetzt Jugendlichen zu treffen, die vor ihren Eltern fliehen. Vergeblich. Einmal kam einer auf mich zugelaufen. Aber er starrte auf irgendetwas auf seinem Handybildschirm und ging an mir vorrüber, ohne irgendeine Notiz von mir zu nehmen. Sie waren also auch hier ausgestorben, die merkwürdigen, scheinbar spontan entstehenden sozialen Orte, die so viele Menschen zusammen gebracht haben.
Wie lernen sich die Menschen heute kennen, wie kommen sie miteinander ins Gespräch, wie spenden sie einander Trost, wenn sie diesen in ihrem direkten Umfeld nicht zu finden vermögen? Bushaltestellen sind nicht die einzigen, einst sozialen Orte, die heute ausgestorben sind. In Zeiten des Lockdowns und der Ausgangssperre sind auch die letzten verbliebenen Treffpunkte, wie Kneipen, sowie die wenigen öffentlichen Plätze, auf denen sich die verlorenen Seelen dieser Gesellschaft begegneten, geschlossen und verwaist. Selbst das In-kontakttreten mit guten Bekannten und Freund*innen findet nur noch selten – und wenn, dann oft verbotenerweise – von Angesicht zu Angesicht statt, während sogenannte “soziale Medien” sich längst als eine Art Kontaktbörse sexueller und nicht sexueller Natur etabliert haben. Und auch wenn es zumindest auf mich schon immer befremdlich gewirkt hat, dass sich Romanzen bei alles übertönender Musik und meist im Alkoholrausch auf der Tanzfläche anbahnen sollen, wo sich schwitzende Körper häufig mehr aneinander reiben, als irgendetwas sonst, so ist das doch nichts im Vergleich zu der Befremdung, die mich überkommt, wenn ich höre, dass dieses Balzritual heute durch eine App namens Tinder abgelöst wurde, bei der man die Bilder anderer mit einer Wischbewegung nach potenziellen Kandidat*innen und denen, die nicht den eigenen Geschmack treffen, sortiert. Oder ist es heute überhaupt noch Tinder? Egal.
Tinder, Facebook, Instagram, Twitter, alles das selbe. Vielleicht heißt das neueste magische Instrument der Wahl ja auch zoom. Zumindest höre ich das überall. Vorlesungen, Museumsführungen, ja sogar Kaffeekränzchen und Parties, für alles gibt es zoom-meetings. Menschen, die zuhause vor dem eigenen Bildschirm sitzen, geben sich dabei mit dem lächerlichen Abklatsch einer sozialen Interaktion zufrieden, um nicht völlig wahnsinnig zu werden? So zumindest wirkt das auf mich. Streril, das ist der Fachbegriff. Sterile Umgebungen paaren sich mit der sterilen Langeweile derer, die sie bewohnen und bringen schließlich sterile Sozialbeziehungen hervor. Denn wie soll man das sonst nennen, wenn einer jede zärtliche Berührung unmöglich gemacht wird und jede aufmunternde Geste von der ohnehin um die Tiefendimension gebrachten Auflösung und Übertragungsrate des Videos abhängt. War das ein Lächeln? Oder hat nur das Bild geruckelt?
Wenn es nach den Damen und Herren Politikern ginge, so wären die Supermärkte gerade die einzigen sozialen Treffpunkte, an denen sich Menschen zufällig oder absichtlich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Auf dem Weg von der Gemüseabteilung zur Fleischtheke noch schnell ein Pläuschchen mit Nina gehalten – man versteht sie kaum, durch die Maske –, dann einen flüchtigen Gruß an die Frau Seifert von nebenan – mensch, die empfängt trotz Corona ständig neuen Besuch, die wird mich noch anstecken – und schließlich das Bezahlen nicht vergessen – das wäre ja mal was … Am Ausgang treffe ich noch den süßen Typ von zwei Straßen weiter, mit dem ich neulich bei Tinder geflirtet habe, aber eine schnelle, verstohlene Umarmung und ein bisschen Smalltalk muss reichen, ich bin mit meiner Mutter zum gemeinsamen Kochen und Abendessen verabredet; “lass uns heute Abend wieder treffen,” säusle ich im Weggehen – auf Tinder, natürlich, ist doch klar heutzutage. Also schnell nach Hause, die Mutter angerufen, für das gemeinsame Telekochen. Typisch, wie schafft die das nur, immer ihre Scheiß Kamera abzuschalten?
So oder so ähnlich muss das derzeitige Sozialleben derjenigen aussehen, die sich an all die Regeln halten. Nicht so schlimm, das sei ja nur übergangsweise so, das hielte man schon mal aus, erklärte mir kürzlich jemand. Sie selbst hätte gar so viele Sozialkontakte wie nie zuvor und bequemer sei es auch, aus dem eigenen Wohnzimmer zu telefonieren, anstatt ständig irgendwo hin fahren zu müssen. Ja, so kann man das auch sehen. Tatsächlich war das im “beruflichen Kontext” für einige Technologie-Fanatiker*innen und Geschäftsfrauen*-männer auch vor der Einsperrung des Lockdowns eine gängige Praxis. Aber selbst die vielbeschäftigten Business-Hipster, die den ganzen Tag Videokonferenzen nach Überseee oder zu den Produktionsstandorten in Asien führten, haben ihr allzu einfach verdientes Geld abends gerne in den hippen Bars und Clubs verschleudert, haben mit ihren Luxuswohnungen nicht zufällig die Viertel gentrifiziert, in denen einst das Straßenleben pulsierte. Auch sie sehnten sich nach realen Sozialbeziehungen, die ihnen selbst die aufwändigsten Videokonferenzsysteme mit 3D-Brillen oder (pseudo) Hologrammen ihres Gegenübers nicht zu bieten vermochten.
Und doch wird man sich daran gewöhnen, mit anderen Menschen nur noch selten oder irgendwann vielleicht auch gar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. So wie viele vergessen haben, wie man einander ohne die ständige Erreichbarkeit via Smartphone draußen auf den Straßen begegnet, so wie viele vergessen haben, wie man sich in der Stadt – oder auf dem Land – zurechtfand, bevor sich die eigene Existenz im Positionspfeil von Google Maps wiederspiegelte, so wie viele vergessen haben, dass ein via Textnachricht übermittelter Emoji kaum ein Ersatz für ein authentisches Lächeln oder irgendeinen anderen Gesichtsausdruck ist. Die Konsequenz ist, dass die ohnehin abgeflachten eigenen sozialen Beziehungen immer weiter abflachen werden. Kein Wunder, denn den Verlust an Qualität einer Beziehung verspricht die Technologie durch Quantität zu kompensieren. Lieber 500 Millionen falscher Freunde als einen echten. Das ist der inoffizielle Leitspruch des einst mit Facebook etablierten Online-Sozialgefüges, das heute droht, die sozialen Beziehungen der wirklichen Welt auch gegen unseren Willen abzulösen.
Während die einen sich nur mit der Hoffnung, dass das alles bald vorbei sein werde, durch diesen Albtraum retten, sprechen andere, jene einflussreichen Tech-Hipster-Unternehmer, die uns diesen zumindest mit beschert haben, davon, dass dies gar kein Albtraum, sondern vielmehr eine große Chance sei. Sie schwärmen davon, dass wir für immer so leben könnten, dass wir die sterilen Umgebungen des eigenen Heims vielleicht niemals wieder verlassen müssten. Und statt sich folgerichtig selbst einzusperren, beabsichtigen diese Leute, die ganze Welt in ein nie dagewesenes Gefängnis zu verwandeln, dessen Ausmaße wir während Lockdown und Ausgangssperre höchstens erahnen können. Und unsere Sozialbeziehungen? Die würden dann endgültig durch jenes virtuelle “soziale Netzwerk” ersetzt, das viele seit Jahren bereits freiwillig gesponnen haben. Jenes “soziale Netzwerk”, in dem ein Bot, ein Computerprogramm, kaum noch von einem anderen Menschen zu unterscheiden ist, jenem, in dem die einzig relevante Frage zu lauten scheint: Werden die Bots immer menschlicher, oder sind es wir Menschen, die sich immer mehr wie Computer verhalten?
Der einzige Ausweg aus diesem Albtraum scheint die Zerstörung zu sein. Hier können wir, die wir die neuen Gefangenen in diesem technologischen Gefängnis sein sollen, viel von den Aufständen jener lernen, die in den Gefängnissen dieser Gesellschaft rebellier(t)en. In ein niedergebranntes Gefängnis kann man nicht wieder eingesperrt werden. Und auch wenn unser neues Gefängnis zuweilen alles zu sein scheint, was uns geblieben ist, so liegt das vielleicht nur daran, dass es uns nicht gelingt, über die Gefängnismauern hinauszublicken.